JUNGER FILM: Spacious: Ein Leben ohne Bilder im Kopf

Der menschlichen Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Ganz egal ob Erinnerungen, Zukunftsvisionen oder etwas komplett Irrationales: All das kann man bis ins kleinste Detail mental visualisieren. Wenn man genauer darüber nachdenkt, erscheint es fast wie ein kleines Wunder. Oder vielleicht sogar wie eine Superkraft?

So jedenfalls wird es im Animationsfilm Spacious porträtiert, von einer Person, die seit Anbeginn ihres Lebens auf eben diese bildliche Vorstellungskraft verzichten muss und stets nur eines vor ihrem inneren Auge sieht: Grenzenloses Nichts.

Aphantasie – so heißt das Phänomen eines fehlenden visuellen Vorstellungsvermögens. Was für den Einen undenkbar erscheint, ist für die namen- und gesichtslose Protagonistin in Spacious knallharte Realität. Seit klein auf fehlen die Bilder in ihrem Kopf, doch bis ins Erwachsenenalter ist sie sich der Anomalie dessen überhaupt nicht bewusst. Erst, als sie in einem Artikel über den Begriff stolpert und sich selbst darin wiedererkennt, wird sie sich der Leere vor ihrem inneren Auge bewusst. Wie kann es sein, dass die Köpfe aller Menschen um sie herum so voller Bilder und Farben zu sein scheinen, während sie selbst sich nicht einmal ein Gesicht merken kann? Dieser vermeintliche Mangel ihres Vorstellungsvermögens löst in der Protagonistin eine Verbitterung über sich selbst aus; zwanghaft versucht sie, sämtliche Banalitäten in ihren Gedanken zu visualisieren. Doch ohne Erfolg.

Still nimmt der Zuschauende Anteil an ihrer Geschichte, an dem Kampf, den sie mit sich selbst lange Zeit ausgefochten hat. Wir lauschen der Stimme aus dem Off, betrachten den stets schwarzen Bildschirm, auf dem nur vereinzelt weiße Punkte und bunte Farbstränge Form annehmen. Wir empfinden Mitgefühl für die Protagonistin, obwohl nur die wenigsten von uns ihr Problem wirklich nachvollziehen können. Trotz seiner Schlichtheit wirkt Spacious sehr persönlich und emotional – und schafft ein Ende, was schöner hätte nicht sein können. 

In dem von Pauline Muszi produzierten Kurzfilm wird all jenen Betroffenen Gehör verschafft, die normalerweise in der Menge untergehen. Wir erfahren, wie eine Person mit Aphantasie die Welt wahrnimmt und fragen uns im Affekt, wie wir eigentlich die Welt wahrnehmen. Nachdem mich Spacious zuerst nicht allzu sehr begeistert hat, konnte ich auf den zweiten Blick Sinn erkennen in den Strukturen und der Handlung. Ich verstehe jetzt, dass die körperlose Stimme als Sinnbild steht für viele verschiedene Stimmen, die alle verbunden sind durch ihr fehlendes visuelles Vorstellungsvermögen. Und ich habe gelernt: Man muss die Aphantasie nicht unbedingt als etwas Abnormales sehen oder als Handicap. Vielmehr bietet die vermeintliche Leere vor dem inneren Auge Platz für etwas anderes – nämlich für das Hier und Jetzt. 


Text: Carolin Laupitz

Dieser Film läuft in Block 6 des Wettbewerbs JUNGER FILM beim FiSH – Filmfestival im Stadthafen.

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