Im Kreis kriechen [Länderreihe Großbritannien „Ratcatcher“]

Die Haut saugt jede Farbe auf. Lynne Ramsays „Ratcatcher“ ist eine große, graue Tragödie, die von Berührungen und Geräuschen erbaut wurde.

Foto: Kairos Filmverleih
Foto: Kairos Filmverleih

Der Debütfilm der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay („We need to talk about Kevin“) lockt uns in das Glasgow der siebziger Jahre. In diesen Straßen fressen sich Ratten durch prall gefüllte, schwarze Müllsäcke, die in Haufen über die ganze Stadt verteilt sind. Die Müllarbeiter streiken – deshalb sind die Säcke immer da, wachsen wie Gebüsch aus dem Boden. Sie sind die Natur. In dieser Natur kommen die Ratten ans Licht und laden dazu ein, genau wie sie zu sein. Die Straßen sind grau. Die Ratten sind grau. Wer mit ihnen zusammenleben muss, kann sich seine Farbe nicht aussuchen.

Ramsay erschafft in „Ratcatcher“ eine düstere, aussichtslose Reagenzglas-Realität und infiziert sie mit einer grauen Seuche, die sich bereits in die tiefsten Ecken des Bewusstseins eingefressen hat. Meisterhaft durchbricht sie die belehrenden Begrenzungen einer Milieustudie und konzentriert sich ehrlich auf den 12 Jahre alten, von Schuldgefühlen zerfressenen James (William Eadie). Seine Schuld liegt im grauen Wasser eines Baches. Hier trifft er auch ein älteres Mädchen, mit dem er sich anfreundet. Sogar sein alkoholsüchtiger Vater wird kurzzeitig zum Helden – an eben diesem Fluss. Die einzig ehrlichen Emotionen der Stadt entspringen scheinbar aus dessen grauem, gleichgültigem Wasser. Die Menschen geben diese Emotionen wie eine Seuche weiter – aber nicht mit Worten, sondern mit Berührungen. Ramsay zeigt uns diese winzigen Berührungen anstatt großer Konflikte. Die Hand des kleinen Helden streicht über eine Wunde, oder eine Wand. Die Hand seiner Mutter kratzt ihm mit einem Kamm Läuse aus dem Haar. Die Geräusche dieser Berührungen werden so minutiös aufgezeichnet, dass man sie zuweilen selbst zu spüren glaubt.
Ihre Berührungen sind stets unangenehm zu beobachten und zu belauschen, doch viel mehr haben diese Helden nicht. Man muss sich berühren – egal vor wem, wie stark, wie sinnlos oder brutal. Denn Gefühle kommen aus einem grauen Fluss, und Hoffnung wird gemeinsam mit den Ratten gefangen.

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