Die Welt hat ein Gerechtigkeitsdefizit (Doku „Meine liebe Republik“)

Friedrich Zawrel blickt freundlich in die Kamera. Nicht selten lächelt er sogar, während er erzählt und es fällt schwer, sein unaufgeregtes, unverbittertes Auftreten mit seinen Worten zu vereinbaren. Denn seine Geschichte ist ungeheuerlich.

Ein Leben mit Stoff für mehr als einen Kinofilm

Sie beginnt mit einem Brief. In diesem wird Zawrels Vater als wehruntüchtig befunden, die Familie als „biologisch und soziologisch minderwertig” eingestuft: ein Grund, Friedrich den Beitritt zur HJ zu verwehren. Ohne braunes Hemd ist er in der Schule den ständigen Demütigungen seiner Lehrer und Mitschüler ausgesetzt. Als er deren abfällige Behandlung als “Minderwertiger” nicht länger erträgt, bleibt er der Schule für einige Tage fern. Dies wird zum Anlass genommen, ihn als “aufrührerischen Rebell” in die Euthanasieklinik “Am Spiegelgrund”, die zweitgrößte Klinik dieser Art in Nazideutschland, einzuweisen. Zwischen 1940 und ’45 sind an diesem Ort über 800 Kinder ermordet worden. Viele starben an den Folgen der hier durchgeführten grausamen medizinischen Experimente. Nur knapp entrinnt Zawrel dem selben Schicksal, bleibt aber als “einer von da“ gebranntmarkt. Vieles, wie zum Beispiel der Platz an einer Berufsschule, bleibt ihm verwehrt und so rutscht er in die Kriminalität ab. In diesem Zusammenhang trifft er 1974 auf einen alten Bekannten: des Diebstahls angeklagt sitzt er dem Gerichtsgutachter Heinrich Gross gegenüber, seinem ehemaligen “Arzt” aus der Euthanasieklinik. Im Gegensatz zu Zawrel war diesem in der 2. Republik keine Tür verschlossen geblieben. Gross, der zu Nazizeiten einen Massenmord an geistig und körperlich behinderten Kindern verübte, ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Dass einer der populärsten Gerichtsgutachter Österreichs seine Doktorarbeit auf die Forschungen an Gehirnpräparaten ermordeter Kinder stützt, will keiner gewusst haben. Und anscheinend will es auch jetzt keiner genau wissen. Die Bemühungen Zawrels, mit Hilfe des Arztes Werner Vogt auf die NS-Vergangenheit Gross‘ aufmerksam zu machen, werden weitestgehend ignoriert. Gross darf seiner Arbeit weiter nachgehen. Erst 1998 wird ein Strafrechtsverfahren gegen Heinrich Gross eröffnet. Doch wieder entzieht sich Gross seiner Verantwortung. Wegen der angeblichen Demenz des Angeklagten wird der Prozess vertagt und nie wieder aufgenommen. 2005 stirbt Heinrich Gross ohne je zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.

“Meine liebe Republik, du kannst mich mal gern haben”

Der Dokumentarfilm “Meine liebe Republik” von Elisabeth Scharang ist ebenso unglaublich wie packend. Die stets beobachtende Kamera zeigt einen Mann, der nichts weiter will, als etwas richtig stellen. Es geht Zawrel einzig um die Richtigstellung historischer Fakten, nicht um Bemitleidungen oder gar die Befriedigung von Rachegelüsten. In seiner ungemein gelassenen Art erzählt er seine Geschichte, die vor allem verdeutlicht, dass Recht nicht immer gleichbedeutend mit Gerechtigkeit sein muss.